24. dezember

 

 

…vom schnee

 

erinnern sie sich noch an den ersten schneefall in einem spätherbst oder winter ihrer kindheit? es war wie der einbruch einer anderen realität. etwas scheues, seltenes, das uns besuchen kommt, das sich herabsenkt und die welt um uns herum verwandelt, ohne unser zutun, als unerwartetes geschenk. der schnee ist geradezu die reinform einer manifestation des unverfügbaren: wir können ihn nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht einmal sicher vorherplanen, jedenfalls nicht über einen längeren zeitraum hinweg. und mehr noch: wir können des schnees nicht habhaft werden, ihn uns nicht aneignen. Wenn wir ihn in die hand nehmen, zerrinnt er uns zwischen den fingern, wenn wir ihn ins haus holen, fliesst er davon, und wenn wir ihn in die tiefkühltruhe packen, hört er auf, schnee zu sein. vielleicht sehnen sich deshalb so viele menschen – nicht nur kinder – nach ihm, vor allem vor weihnachten. viele wochen im voraus werden die meteorologen bestürmt und bekniet: wird es dieses jahr weiss? wie stehen die chancen? und natürlich fehlt es nicht an versuchen, schnee verfügbar zu machen. In unserem verhältnis zum schnee spiegelt sich das drama des modernen weltverhältnisses wie in einer kristallkugel: das kulturelle antriebsmoment jeder lebensform, die wir modern nennen, ist die vorstellung, der wunsch und das begehren, welt fügbar zu machen. lebendigkeit, berührung und wirkliche erfahrung aber entstehen aus der begegnung mit dem unverfügbaren.

hartmut rosa

lasst uns das unverfügbare bewahren, auch wenn es nur für die nächsten paar tage verfügbar ist oder wenigstens für eine geschichte.


danke dagi fürs zusenden dieser tollen geschichte
danke heiner für das wunderschöne bild

 

 

rudolflepelerin